22.05.1910 (Leipzig) – 13.08.1989 Stenotypistin
Ravensbrück: August 1942 – 28. April 1945
Ilse Grimm wurde am 22. Mai 1910 in Leipzig-Lindenau als drittes Kind der Familie des Malermeisters Grimm geboren. Ihr Wunsch, Lehrerin zu werden, war nicht zu realisieren und so wurde sie Stenotypistin. Ab November 1929 arbeitete sie bei den Leipziger Stadtwerken.
In ihrer Freizeit wanderte sie gern und lernte dabei Willi Hunger kennen, Arbeiter und Gewerkschafter. Beide schlossen sich dem “Bund für proletarische Lebensformen“ der Fichte-Wandersparte „Rot Front“ an und kamen dadurch in engere Beziehungen zu KPD-Mitgliedern. Ilse wurde Mitglied der „Roten Hilfe“.
Bei den ersten Personalüberprüfungen durch die Nazis 1933 wurde sie fristlos entlassen, weil sie ihre Mitgliedschaft in der Sportorganisation nicht angegeben hatte.
1935 heirateten Ilse und Willi Hunger. Die Verbindung zu den früheren Wandergefährten brach nicht ab, man traf sich gelegentlich, obwohl verboten. Dabei lernten sie den Kommunisten Kurt Gittel kennen, der antifaschistisches Aufklärungsmaterial verfasste. Ilse half ihm durch das Abschreiben von Texten. Im Februar 1940 wurde ihr erster Sohn, Werner, geboren. Ilse und Wille Hunger setzten trotzdem die Zusammenarbeit von Kurt Gittel fort.
Im Juni 1941 wurden alle drei von der Gestapo verhaftet. Ilse und Willi wurden jeweils zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Statt der ersehnten Entlassung kam Ilse im August 1942 nach Ravensbrück und Willi Hunger nach Sachsenhausen.
Ilse Hunger hatte in Ravensbrück zunächst schwerste körperliche Arbeiten zu leisten. Dank der Vermittlung von Rosa Jochmann, zu dieser Zeit Blockälteste von Block 3, erhielt sie nach einiger Zeit Arbeit im „Arbeitseinsatz-Büro“ der SS-Lagerverwaltung zugewiesen.
Damit nahm Ilse Hunger seit 1943 eine für die Häftlinge wichtige Position ein. Hier hatte sie die Möglichkeit, manche Befehle und Anordnungen der SS zu durchkreuzen und durch Manipulationen von Karteikarten und Listen Menschenleben zu retten oder die Lebens- und Arbeitsbedingungen mancher Frauen zu erleichtern. „Die Listen, die im Arbeitseinsatz ausgestellt wurden“, berichtete Erna Lugebiel später, „hatte die Kameradin Ilse Hunger unter sich. Sie war der Engel, der hier wirkte. Sie nahm Namen von den Listen herunter, tauschte Häftlingsnummern aus. Durch diese Tricks wurden viele gerettet, konnten mit Nummern von Toten weiterleben.“
Nach der Befreiung des Lagers am 28. April 1945 blieb Ilse Hunger noch einige Wochen im Lager, um kranke Kameradinnen zu pflegen, die noch zu schwach waren für den Weg in ihre Heimat. Es zog sie aber bald nach Hause zu ihrem Sohn Werner, den sie 1941 das letzte Mal von Ferne gesehen hatte.
(Quelle: „Frauen aus Ravensbrück, 1995“, Kalender, Hrsg. Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten/ Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, 1994, Edition Hentrich, ISBN 3-89468-153-5)
Ilse Hunger gehörte im Herbst/Winter 1944 zu den Organisatorinnen und Akteurinnen der bis heute unvergessenen Kinderweihnachtsfeier im KZ Ravensbrück. 1949, anlässlich des Frauenfriedenstreffens erinnerte sie sich:
"Weihnachten 1944. Die feste Hoffnung, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Ravensbrück zu sein, war zunichte geworden…In diesem Augenblick entstand ein Gedanke, der uns aus drohender Gleichgültigkeit aufrüttelte, der das ganze Lager ergriff und uns für viele Wochen aus der seelischen Not befreite: Wir werden unseren Lagerkindern ein Weihnachtsfest bereiten!
Gertrud, Hilde, Mizzi, Anni, Paula und ihr alle, wisst ihr noch, wie wir auf jedem Block unsere lieben schönen Advents- und Weihnachts-lieder sangen und dabei alle Frauen baten, mitzuhelfen bei einer Weihnachtsbescherung für alle Kinder im Lager? Wie sie alle sofort bereit waren und Pläne schmiedeten, wie sie sogleich uns ein Stück Brot, ihren halben eben erhaltenen Käse der Sonntagsration geben wollten?
Wir wurden aktiv, das ganze Lager wurde aktiv, erwachte aus seiner Stumpfheit und begann heimlich zu arbeiten, aber nicht für die SS, sondern für unsere Lagerkinder. In jedem Block saßen die Frauen und nähten, strickten, stickten, stopften und bastelten aus kleinsten Resten und Abfällen die schönsten Kinderfreuden. Es häuften sich körbeweise die Geschenke, es entstanden reizende Kostbarkeiten und wirkliche Kunstwerke: Spiele, Bälle, Puppen, Pullover, Kleider und Anzüge. Behutsam nahmen wir alles in unsere Hände und schluckten die Tränen hinunter.
Aber als ganz besondere Überraschung und Freude für die Kinder dachten wir uns ein Kasperletheater aus. Wir wollten einmal unsere Kinder lachen machen. Toni dichtete ein Spiel mit Prinz und Prinzessin, mit Räuber und Zauberer, mit einem bösen Drachen. Unsere Künstler Flora und Maryna formten aus Wachs Puppenköpfe. Jeder schaffte Stoffe und Reste heran, und es entstanden Wunderwerke, die uns selber entzückten. Es wurden Kulissen gemalt, ein prächtiges Schloss, Proben wurden veranstaltet. Ach, wisst ihr noch unter welchen Schwierigkeiten? In einem Lager, in dem nichts erlaubt war? Wir lebten neu auf, das ganze Lager lebte neu auf, schöpfte aus diesem Tun neue Hoffnung, vereint in dieser Kinderhilfsaktion. Wir sammelten Esswaren, Leckereien aus Paketen, Äpfel, Gebäck, Brot, Marmelade, viele gaben, nein, alle gaben!
Wir erreichten von der Lagerführung die Erlaubnis für das Kasperlespiel, aber man verbot uns die Verteilung der Geschenke, nachdem man gesehen, welch reizende Sachen gearbeitet worden waren.
Aber wir hatten ja fast alles gut versteckt, und heimlich haben wir nach dem Weihnachtsfest diese Sachen auf den Blocks verteilt. Nun war es so weit…Um 12 Uhr wussten wir noch nicht, wann die Männerhäftlinge, die dort arbeiteten, Schluss machen würden. Endlich um 1 Uhr, — die SS hatte wohl auch keine Lust, an Weihnachtsfeiertagen bis nachmittags um 5 Uhr Wache zu schieben —, konnten wir mit unseren Vorbereitungen beginnen; doch um 4 Uhr musste alles beendet sein, da begann der Zählappell. Wir arbeiteten fieberhaft, und bald war alles festlich hergerichtet. Auf der einen Blockseite stellten wir Tische auf, mit weißem Papier bedeckt, geschmückt mit Tannenzweigen und darauf unsere gesammelten Esswaren, die ein Kinderherz, das immer hungerte, entzücken mussten. Dazu ein großer Weihnachtsbaum, bunt und lustig angeputzt, mit richtigen Lichtern. Im anderen Tagesraum wartete das Kasperletheater auf seine kleinen Zuschauer. Frierend und zitternd, mit erwartungsvollen Gesichtern, so kamen die Kinder truppweise von allen Blocks gezogen. 400 Kinder vom Vierzehnjährigen bis zum kleinsten Zweijährigen, den die Mutter auf dem Arm trug. Eine Freude schon: bei uns war es warm, und die Zigeunerkinder hockten sofort in der Ofennähe. Es war nicht leicht, in dieser Enge, die Kleinen nach vorn und die Großen nach hinten zu dirigieren, denn es gab keine Stühle. Und das Spiel begann…Erikas Stimme, die das Märchen erzählte, klang warm und innig durch den Raum. Unsere Augen aber schweiften über die Kinder hin, die glücklich und aufmerksam ihr trauriges Leben einmal vollkommen vergaßen. Und als das erste kräftige Lachen von diesen armseligen Kindern erscholl, als die Begeisterung immer größer wurde, als sie immer mehr nach vorn drängten in ihrem Eifer, da wuchs auch in uns immer mehr die Freude. ..
Liebe Kinder! Was ist aus Euch geworden? Ihr musstet noch einen Transport aushalten, nach Bergen-Belsen, nach Mauthausen! …"
Aus: Nur deshalb sind dem Tode wir entronnen, damit wir an dem Frieden bau`n, September 1949, Rede von Ilse Hunger